Quelle: Märkische Allgemeine Zeitung, 07.10.2010

 

Linguistik-Studie: Die deutschen Grundschulen integrierten vor 30 Jahren Kinder bildungsferner Familien besser als heute

 

Ganztagsschule“ und „Kita-Pflicht“ sind Zauberwörter, mit denen deutsche Politiker die Integrationskraft der Grundschulen beschwören. Sie wollen verhindern, dass ein Viertel aller Drittklässler in einen eklatanten Leistungsrückstand gerät. Die sogenannten Risikoschüler kommen überwiegend aus bildungsfernen Familien – auch in Brandenburg. Ende der dritten Klasse entsprechen ihre Kompetenzen nicht einmal den Minimal-anforderungen. Zudem werden Unterschicht-Kinder mit guten Leistungen in vielen Bundesländern von ihren Lehrern nachweislich bei der Bildungsempfehlung benachteiligt. Deutsche Grundschulen verstärken heute also die sozialen Differenzen, anstatt sie anzugleichen. Das war nicht immer so, belegt eine brisante Studie mit dem Titel „Schreiben von Kindern im diachronen Vergleich“.

 

Gemeinsam mit drei Kollegen hat der Germanist Wolfgang Steinig erstmals die Schreibleistungen zweier Generationen verglichen. Das Fazit: Anfang der 70er Jahre vermochte das westdeutsche Schulsystem soziale Differenzen noch in großem Maße auszugleichen. Heute gelingt das nicht mehr. Doch man könne Lehrern keineswegs ein kollektives Versagen vorwerfen, schreibt der Siegener Professor. „Der Mangel an Chancengleichheit scheint systembedingt.“ Die Grundschule habe heute „in erheblichem Ausmaß die Fähigkeit eingebüßt, Unterschiede im Sprachgebrauch von Kindern unterschiedlicher Sozialschicht auszugleichen“.

 

1972 ließ Steinig 250 Viertklässler Aufsätze schreiben. 30 Jahre später wiederholte er den Versuch. Geschrieben wurde in den gleichen nordrhein-westfälischen Schulen. Gezeigt wurde derselbe zu diesem Zweck gedrehte amateurhafte Super-8-Film, den die Schüler in einem Aufsatz beschreiben sollten.

 

Das Ergebnis: 2002 haben die orthographischen Fehler um 77 Prozent zugenommen, inhaltlich sind die Texte dafür ansprechender. Sind Inhalte heute also wichtiger als die Form? Die Durchschnittszahlen täuschen. Schüler, die gut lesbare, interessante Texte schrieben, machten nur verhältnismäßig wenige Fehler, die Verfasser inhaltlich schwacher Texte um so mehr. Zugleich stammen die schwachen Aufsätze heute um ein Vielfaches häufiger von Kindern aus der Unterschicht als noch 1972. „Während die sprachliche Qualität ihrer Texte stagniert oder abnimmt, sind ihre Fehlerzahlen enorm angestiegen“, heißt es in dem Buch.

 

Mit seiner Studie zeigt Steinig, dass es 1972 noch keine größeren „schichtspezifischen Unterschiede“ am Ende der Grundschulzeit gab. „Damals gelang es der Schreibdidaktik in der Grundschule offenbar noch, die schriftlichen Fähigkeiten aller Schüler zu fördern.“ 30 Jahre später ist das Ergebnis ein anderes: „Die Texte zeigen sehr viel deutlicher, aus welcher sozialen Schicht die Familie eines Kindes stammt und welche Sekundarstufe es besuchen wird.“

 

Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen: Erstens benötigen Schüler offenbar ein orthographisches Gerüst, um auch inhaltlich kreativ schreiben zu können.

 

Zweitens prägen selbstständiges Lernen und Kreativität heute den Unterricht. Doch je offener und unsystematischer Schreiben in der Schule vermittelt wird, desto häufiger müssen Eltern ihren Kindern die Regelhaftigkeit der Sprache zu Hause vermitteln. Eine Aufgabe, die bildungsferne Familien überfordert.

 

Dabei hat die Schriftlichkeit durch täglichen Computer- und Internet-Umgang extrem zugenommen. „Auch wenn ich es gern anders hätte, Rechtschreibung ist heute wichtiger denn je“, bestätigt Steinig im Gespräch, „sie wirkt als soziale Barriere und entscheidet über Schullaufbahn und beruflichen Erfolg“. In die Führungsetagen schaffe es nur, wer Orthographie und Kommasetzung beherrsche. „Die Rechtschreibung wird zur sozialen Markierung und dient als Kriterium für eine knallharte Auslese.“

 

Kinder aus bildungsnahen Familien sind von Anfang an im Vorteil. Sie sammeln schon vor der Einschulung Schreiberfahrungen, können ihren Namen schreiben, kennen Buchstaben, Leserichtung und erste Wörter. Kinder bildungsferner Familien geraten bereits in den ersten Schulwochen stark ins Hintertreffen. „Individuelles, an den Fähigkeiten eines Kindes orientiertes Lernen darf nicht dazu führen, dass schwächere Schüler in den ersten Schulwochen den Anschluss verlieren, weil sie zu wenig gefördert und gefordert werden“, erklärt der Linguist.

 

Als „Irreführung“ bezeichnet Steinig deshalb eine Didaktik, die Rechtschreibung in den ersten Schuljahren für „nicht so wichtig“ erklärt und am Ende der vierten Klasse als entscheidendes Argument für die Bildungsempfehlung in die Waagschale wirft. „Auf einmal sind Rechtschreibfehler als hartes Argument sehr gefragt, weil sie zählbar und juristisch überprüfbar sind.“

 

Bildungsferne Eltern lassen sich täuschen, wenn sie ihr Kind einschulen. Die Atmosphäre ist fast so locker und familiär wie in der Kita, die Lehrerin scheint nicht streng zu sein und zeigt für Schwächen viel Verständnis. Diese Eltern vertrauen der Schule, dass diese sich ausreichend um ihr Kind kümmere, so Steinig. Ein fataler Irrtum. Denn die Mittelschicht-Eltern greifen schon früh korrigierend ein. Sie bestehen zu Hause auf korrekter Rechtschreibung und ergänzen das lückenhafte Regelwissen aus der Schule.

 

Es sei schon eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die „linke, emanzipatorische Pädagogik“ seit den 70er Jahren Rechtschreibung in der Schule hinten an stellt. „Damit wollte sie den Unterschicht-Kindern entgegenkommen“, erläutert Steinig. „Man fürchtete, Kindern der Unterschicht ihre soziale Identität zu rauben, wenn man ihnen die Sprache der Mittelschicht aufzwingt.“ Mit dieser Rechtfertigung hat sich die Bundesrepublik jene Förderung schwacher Schüler gespart, die in anderen Ländern seit Jahrzehnten üblich ist.

 

Dabei spiegelt der Umgang mit schwachen Schülern sehr deutlich das jeweilige Menschenbild einer Gesellschaft. In demokratischen Verfassungen sollte man vermuten, dass es von der Aufklärung geprägt ist. Immerhin ist die Beherrschung von Lesetechnik und Rechtschreibung eine Grundvoraussetzung zur demokratischen Teilhabe. „Zum Beispiel gilt in asiatischen Ländern wie Vietnam: Jedes Kind kann alles“, fällt Steinig dazu ein. In Deutschland sei das heute nicht so eindeutig. „Gerade deshalb ist die Maxime ungerecht, jedes Kind dort abzuholen, wo es steht und in seinem eigenen Tempo lernen zu lassen“, kritisiert der Germanist einen Hauptgedanken der Reformpädagogik. „Die vermeintlich wohlwollende Haltung gegenüber schwächeren Kindern vertieft den Graben.“

 

Steinigs Buch ist ein Novum, weil sich deutsche Soziologen, Pädagogen und Didaktiker seit 30 Jahren kaum noch für das Thema soziale Gerechtigkeit in der Schule interessiert haben. Ihr Fokus ist auf die Gruppe der Migrantenkinder und deren Zweisprachigkeit gerichtet.

 

Steinig kritisiert diese Verschiebung des Problems: „Der Risikoschüler von heute verliert den Anschluss nicht aufgrund seiner Migranten-Situation, sondern aufgrund seiner sozialen Herkunft.“ Die Zweisprachigkeit komme dann nur noch erschwerend hinzu, so der Experte für Deutsch als Zweitsprache.

 

Steinigs 400-Seiten-Buch besteht aus einer Fülle von Statistiken und nüchterner Analyse. Doch im Gespräch scheut der Germanist keineswegs, die gängigen Lehrwerke mit deftigen Worten zu kommentieren: Viele seien nichts als ein „Potpourri aus unsinnigen Aufgaben und Ausfüllbögen“. Ihnen liege eine Art „Pfingstwunder-Didaktik“ zugrunde. Rechtschreibung werde nur noch wie eine bittere Pille untergemischt. Dahinter stehe, dass der Schreiberwerb als Naturwüchsigkeit verstanden werde. „Das ist Quatsch. Schreiben ist eine Kulturtechnik, die man begreifen und dann üben muss.“ Wenn sich Kinder ihre eigenen Lernwege suchen, können sie auch falsch sein. Dann erfordert es einen größeren Aufwand, wieder in die richtige Spur zu kommen.

 

Deshalb warnt Steinig vor der verbreiteten Annahme, schwache Rechtschreibfähigkeiten würden sich von selbst auswachsen. Dazu gebe es keine wissenschaftlichen Belege. Steinigs Studie gibt vielmehr Anlass zu der Vermutung, dass Schüler, die zu spät Rechtschreibregeln erlernen, deutlich mehr Fehler machen.

 

Am Ende seiner empirischen Studie fordert Steinig die Politik mit deutlichen Worten auf, die Grundschulen in ihre Verantwortung zu nehmen. Der Unterricht müsse gründlich überarbeitet und Kinder bildungsferner Familien müssten in den ersten Jahren besonders intensiv gefördert werden. Damit will er keineswegs in die 70er Jahre zurück. „Schüler sollen sich wohlfühlen und Schule als einen anregenden Lernraum erfahren – ein Ziel, das heute wesentlich besser erreicht wird als früher. All dies ist ausdrücklich zu begrüßen!“, heißt es im letzten Kapitel. Auch die Anlauttabelle sei nicht per se zu verteufeln, dürfe aber nicht zentrales Medium sein, erklärt Steinig auf Nachfrage. Jahrgangsübergreifender Unterricht habe durchaus Vorteile, wenn er ausreichend viele „systematische Phasen“ integriere. Das Gleiche gelte für die Ganztagsschule, allerdings müsse sie dann auch mehr und qualitativ höhere Lernzeit zur Verfügung stellen. Bewährt habe sich beispielsweise ein Tutoren-Modell, bei dem stärkere Schüler schwächere unterrichten. Davon würden beide Seiten profitieren. Dringend nötig sei für alle Schüler mehr Lernzeit zum Automatisieren. Die Schreibregeln müssten nicht nur begriffen sondern auch trainiert werden, so Steinig. „Schule muss das ganz allein leisten können.“

 

Wolfgang Steinig, Dirk Betzel, Franz Josef Geider, Andreas Herbold: Schreiben von Kindern im diachronen Vergleich. Texte von Viertklässlern aus den Jahren 1972 und 2002. Waxmann Verlag, Münster 2010. 412 Seiten, 34,90 Euro (Von Nathalie Wozniak)

 

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